Weihnachtsgeschenke für Despoten
Das geheimnisvolle Verschwinden der Buchhandlung Klingberg
von Arne Bicker
Wie nennt man den Versuch eines textlichen Schlusspunkts unter eine Buchhandlung, die es der Logik des Begehrens und Sich-Verzehrens, der exklusiven Expertisen und papiernen Treueschwüre, der raschelnden Liebesbeweise und eines sagenumrankten Regalfunkelns nach eigentlich noch geben müsste? Eine Elegie? Das klänge nach einer verschiedenen Geliebten, welche tränenerstickt zu besingen wäre.
Aber, seien wir ehrlich, ganz so schlimm ist es ja nun auch wieder nicht. Ein Vergleich mit der Buchhandlung Sempere & Söhne in einem Land, in dem die Blumen immer blühen, ist indes dringend geboten und angebracht. Jede weitere Lobhudelei allerdings erübrigt sich, blickt man auf jene tragischen Szenen, die die Wochen der Schließung flankierten: Reihenweise mussten tränenüberströmte Kundinnen mit Nervenzusammenbrüchen in die umliegenden Krankenhäuser eingeliefert werden; nur die wenigsten von ihnen können schon wieder geistige Nahrung zu sich nehmen.
Ein rüstiges Rentner-Ehepaar um die 80 hisste gar entschlossenen Blickes ein Transparent mit der Aufschrift „First Generation of Klingberg Book Readers“ und klebte sich mit Zahnhaftcreme wortlos am Boden vor dem Kassenbereich fest. Diese Aktivisten im Schlafrock hatten allerdings nicht mit dem Pragmatismus eines modernen Buchhändlers gerechnet: Kurzerhand verfrachtete Herr K. die still Protestierenden samt Linoleum aus der Sperrzone, noch bevor die Fernsehkameras am Ort des Geschehens aufploppten. Nun mussten diese beiden Stammkunden täglich in einer Mulde im Hinterhof verpflegt werden, mit Stampfkartoffeln und Doppelherz.
Und eigentlich sollte es in diesem Text so fort gehen, rund um das unendlich traurige Verduften der Buchhandlung Klingberg, ein Ehren und Weihen auf Teufel komm raus, nur: Die Weltlage ließ dies nicht zu. In den Nachrichten dominierte zu gleicher Zeit ein Thema, welches alles andere in den Hintergrund drängte: Bruce Springsteen hatte sein 21. Studio-Album veröffentlicht. Es heißt „Only the Strong Survive“ und versammelt 15 schwülstig zusammengecoverte Soul-Tracks. Soul? Da schreibt der Spiegel sogleich: „Album sucht Seele – US-Rockstar singt Soulklassiker.“ Und fragt: „Ist das nun eine dreiste kulturelle Aneignung oder eine Geste der Versöhnung?“
Die eine Vermutung klang so dämlich wie die andere, fand ich.
War das nicht viel eher eine kulturelle Aneignung des Verdummungsmonopols der BILD-Zeitung durch ein hochrangiges Nachrichten-Magazin? Songs wie „Nightshift“, „What Becomes of the Brokenhearted“ oder „The Sun Ain’t Gonna Shine Anymore“ wurden teils von farbigen, teils von weißen Musikerinnen und Musikern komponiert, getextet, eingesungen. Das konnte also mit der kulturellen Aneignung nicht gemeint sein. Also schaute ich mir das Plattencover an. Trugt Springsteen darauf etwa Dreadlocks? Mitnichten. Der Mann, der „The Boss“ genannt wird, weil er zu Zeiten, bevor die Millionen sprudelten, seine Band oftmals in bar ausbezahlt hatte, präsentierte eine toppmodische Fußballerfrisur, obendrauf ein betonhartes Vogelnest und an den Seiten drei Zentimeter breite Ohrenscheitel.
Aber dieser Blick! Springsteen schaute auf dem Cover exakt so schräg von der Seite herüber wie der weiße Hai, als der sich gerade von hinten in das sinkende Boot von Chief Brody verbiss. Amerikanischer kann man quasi nicht mehr gucken. Der Film „Der weiße Hai“ – im Original heißt der „Jaws“, also Kiefer – ist ja ein halb dokumentarisches Werk, weil er sich auf tatsächliche Vorfälle im Jahr 1916 bezieht.
Damals wurden zwischen dem 1. und 12. Juli an der Küste New Jerseys vier schwimmende Menschen durch Hai-Angriffe getötet. Steven Spielberg, dessen Hund übrigens in dem Film mitspielt (und wohl deshalb nicht gefressen wird), verarbeitete also 1975 ein uramerikanisches Trauma für sieben Millionen US-Dollar Produktionskosten. Eingespielt hat der therapeutische Streifen 471 Millionen. Dafür hat jetzt die ganze Welt panische Angst vor Haien.
Wo war ich? Bei der Buchhandlung Klingberg.
Kaum einer kennt den tiefen Keller unter der Buchhandlung Klingberg. Das ist ein unheimlich unheimlicher Ort. Spinnweben, pechschwarz und so lang wie die Hängebrücke im Steinwasenpark – Nosferatu-Spinne, lass dein Haar herunter. Es ist einer dieser Keller – wenn man das Licht anschaltet, dann wird es noch dunkler, kennt ihr das? Da haben wir Bücher ausgeräumt und hochgetragen. Irgendwie wie aus dem Laderaum der 1912 gesunkenen Titanic. Sagt Euch diese eiserne Regel etwas, dass man wenig stabile Umzugskartons aus Pappe nie ganz randvoll mit Büchern machen soll? Daran haben wir uns jedenfalls nicht gehalten.
Und dieser unterirdische Friedhof der Bücher, um mit Zafon zu sprechen, enthielt wahre Schätze. Zum Beispiel den Gedichtband „Das Leben ist kein Traum“ von Salvatore Quasimodo aus dem Piper-Verlag. 1960. Das gehört jetzt mir. Darin finden sich verdächtig wesensgleich betitelte Gedichte wie „Und schon ist es Abend“ oder „Es neigt sich der Tag“. Aber auch „Versunkene Oboe“, „Toter Reiher“ oder „In einer fernen Stadt“. Ich zitiere: „Vom Himmel kam er nicht, nein, auf die blasse algengleiche Wiese des nordischen Gartens sprang er plötzlich herab, ein Rabe, von steilen Blättern […] so wirklich wie ein Akrobat am Trapez des Tivoli.“
Das längste Gedicht heißt „Nachwort“ und ist in einem mir völlig unbekannten Versmaß geschrieben.
Oder „Das Wörterbuch der bösen Mädchen – Schlaue Sprüche von frechen Frauen“, aus dem Hause Econ & List, 1997. Unter dem Buchstaben „K“ wie Klingberg finde ich: „Karate: Wenn Du Karate kannst, ist es egal, ob du ein Höschen trägst oder nicht.“ „Kultur: Kultur ist das, was der Metzger hätte, wenn er Chirurg wäre.“ Oder „Kino: Ich würde nicht unbedingt sagen, wenn man einen Western gesehen hat, hat man praktisch alle gesehen. Aber wenn man praktisch alle gesehen hat, hat man das Gefühl, bloß einen gesehen zu haben.“ Und dann noch „Knabe: Der Unterschied zwischen einem Knaben und einem Mann […] besteht meist nur in der Preisdifferenz ihrer Spielsachen.“
Konstantin Klingberg übrigens fährt – anders als es sein Vorname vermuten lässt – gar keinen Konstantin-Opel, sondern einen Jeep. Da fällt mir ein: Kennt ihr den Film Jeepers Creepers aus dem Jahr 2001? Habt ihr den gesehen? Ich nicht. Aber dieser Name! Es gibt Titel, die brauchen keinen Film, keinen Roman mehr. Zum Beispiel Rocko Schamonis „Sternstunden der Bedeutungslosigkeit“. Den Rest kann man sich dann selbst andächtig zusammenträumen.
Wo war ich? Im Klingberg’schen Horror-Keller.
Hier fiel mir eine flache Din-A-6-Plastikfolie in die Hand. Darin ein „Faltplan der Engel“. Kennt ihr noch diese alten „Falk-Pläne“? Die hat mein Vater nach dem Kauf immer mühsam und fluchend auf dem Küchentisch auseinandergefaltet und dann die Risse mit Tesafilm zugeklebt. Diesmal also der „Faltplan der Engel“. Steht da vielleicht drin, wie man einen Engel zusammenfaltet? Ich stelle mir vor, wie der bajuwarisch-römische Markus Antonius Söderus seinen Schutzengel zusammenfaltet: „Du depperte Schmeißfliegen, du narrische! Luja sog i!“
Ich faltete den in pastellzartem Lila und Himmelblau gehaltenen Plan vorsichtig auseinander: Bei „Schutzengel“ stand da: „Wer springt, fällt in Gnade.“ Au weia. Der Plan hat keinen Plan, scheint es. Ich höre förmlich eine Hausfrau flüstern: „Schatz, wenn du wirklich springst, nimm doch bitte den Müll mit runter.“ Wenigstens hat der Plan keine Risse. Ich könnte ihn meinem Vater schenken.
Wahrscheinlich ist dieser Engelsplan ein Relikt aus jenen Zeiten, als der Buchhandlung Klingberg der gigantische Nachlass einer Esotherik-Buchhandlung in den Schoß fiel: 600 Kartons voller Ying und Yang und Fotos von Chemtrails. Frage an Konstantin Klingberg: Wer waren die interssantesten Kunden in all den Jahren? Antwort: „Oh, da gab es eine Kanzlergattin, gleich mehrere bekannte Bestseller-Autoren und einen als Verschwörungstheoretiker bundesweit sehr bekannten Journalisten. Aber am interessantesten waren die Stadtstreicher Herr Schöne und Herr Hummel.“ – Hießen die wirklich so? – „Nein. Aber der eine sah wirklich gut aus, und der andere hat sich hier in der Buchhandlung eingenässt.“ Unabsichtlich, fügte Herr K nach kurzem Nachdenken hinzu.
Und welches war das krasseste Buch, dass er verkauft hatte? – „Die Geschichte der Rothschilds, erste und einzige Auflage aus der Deutschen Verlagsanstalt, für 1.500 Euro.“ – Gab es denn auch mal einen Tag, an dem mal kein einziger Kunde kam? – „Leider nein, ich habe immer auf einen solchen Tag gewartet.“ – Warum denn das? Herr K überlegte kurz: „Das war wohl Erlebnishunger“. Wenn man auf jemanden wartet, der nicht kommt, dann heißt der Godot. Das habe ich in der Schule gelernt. Aber wenn man darauf wartet, dass jemand nicht kommt?
Mir fällt auf: So eine Buchhandlung ist, selbst leergeräumt in der Phase der akuten Schließung, ein sehr philosophischer Ort.
Was mich direkt zu meinem Keller-Bücherfund „Jeder kann es schaffen“ von Klaus Waller, Kreuz-Verlag Stuttgart, 2001, führt. Als Beispiele dafür, dass es jeder schaffen kann, führt der Autor in seinem Werk unter anderen Muhammed Ali, Lance Armstrong und den Dalai Lama an. Das Buch hat der Autor allen gewidmet, die, so wörtlich, „mir in meiner eigenen Lebenskrise geholfen haben“. Vermutlich waren das nicht die hier ebenfalls herbeizitierten Hildegard Knef, Liselotte Pulver und Tina Turner. Sondern die Leser dieses Buches, mit jeweils 29,90 € an den Ich-leg-dich-aufs-Kreuz-Verlag.
Apropos Hildegard Knef: Warum heißt eigentlich diese Straße, in der die Buchhandlung Klingberg vor genau zehn Jahren gelandet war wie ein außerplanetares Raumschiff, Hildastraße? Im Internet findet sich keine direkte Antwort darauf. Dafür gibt es den Hinweis vom digitalen Straßenlexikon „onlinestreet.de“, dass die Hildastraße eine „Nebenstraße mit Verbindungscharakter“ sei. Eine Straße mit „Verbindungscharakter“. Im Ernst? Auf so was muss man erst mal kommen. Hauptsache, was hingeschrieben.
Es gibt eine Netflix-Serie mit dem Titel „Hilda“, zwei Staffeln. Kurzbeschreibung: Die junge, blauhaarige Hilda (etwa 10 bis 12 Jahre alt) ist ein unerschrockener Freigeist. Hilda zieht aus ihrem Zauberwald in die Stadt, wo sie neue Freundschaften schließt, Abenteuer erlebt und Zauberwesen kennenlernt.
Das war genau der umgekehrte Weg von Herrn K: Der zog nach der Schließung seiner Buchhandlung aus der Stadt in die weite Zauberwelt, wo er neue Freundschaften schließen, Abenteuer erleben und Zauberwesen kennenlernen wollte. Zum Beispiel in Klingberg, einem Elfhundert-Einwohner-Dorf in Schleswig-Holstein, am Große Pönitzer See, nahe der Lübecker Bucht, umgeben von Buchen- und Mischwäldern und Mischehen und Mischwesen und Elfen und Feen.
Und dann finde ich sie doch noch, Hilda, die letzte Großherzogin von Baden, vollständiger Name Prinzessin Hilda Charlotte Wilhelmine von Nassau, geboren 1864 in Biebrich bei Wiesbaden, gestorben und begraben 1952 in Badenweiler. Hilda war die jüngste Tochter des Herzogs Adolph I. von Nassau und dessen Gattin Prinzessin Adelheid Marie von Anhalt-Dessau, Tochter von Prinz Friedrich August und dessen Gattin Prinzessin Marie Luise Charlotte von Hessen-Kassel.
Hessen Kassel kenne ich, die waren von 1980 bis 1987 in der zweiten Liga, mit Leistungsträgern wie Peter Cestonaro und Dirk Bakalorz. Trainer war dort in jenen Tagen auch mal Jörg Berger, der einst den SC Freiburg trainierte hatte, vor Volker Finke. Großherzog war Berger nicht. Aber Finke? Eher. Der ist jetzt 74 und wohnt auch in der Hildastraße, ein paar Meter weiter. Da schlossen sich gleich mehrere Kreise, wie’n olympisches Ringebild.
Apropos Wien: Plötzlich stand er vor mir, Lionel, herbeigeeilter Künstler aus österreichischer Hauptstadt, tiefgründiger, freundlicher Blick, Hieroglyphen-Jongleur und Komplexitäts-Veredler, halb Österreicher, halb Schweizer, eine lebende Doppelhaushälfte, dachte ich ebenso deutsch wie unlogisch, denn eigentlich eine doppelte Doppelhaushälfte, von der nur ein Teil bewohnt ist, je eine halbe Hälfte aber leer steht, so wie etwa eine Buchhandlung ohne Bücher. Was Lionel wohl zu diesen Gedanken sagen würde? Herr K hatte ihn sirenengleich unter dem Vorwand einer Kunstausstellung nach Freiburg gelockt, damit er hier sklavisch tausende Brutto-Register-Tonnen an randvollen Bücherkartons schleppte.
Wien, das sind für mich Lukas Resetarits, Johann Hölzel, Wolf Haas, Heinrich Steinfest, Stefanie Sargnagel, 5 8erl in Ehr’n, Bilderbuch… Wien, das ist ein leuchtender Fixstern am weiten Firmament, irgendwo im Sternzeichen Hydrant, Aszendent Libelle, ein waberndes Gleißen, ein hochintensives Leuchten, problemlos aus dem Weltraum zu sehen und von weit darüberhinaus. Alle Außerirdischen erkennen sofort: Nein, die brauchen wir nicht.
Vor der Tür zu meinem Kopf standen am Abschiedsabend in der Buchhandlung meine ganz persönlichen Supermänner und -frauen, mein Schattenkabinett der Literatur: Philip Marlowe, Lew Archer, Adolf Kottan, Simon Brenner, Richard Lukastik und Lilli Steinbeck – immer ohne zu klingeln, denn es gibt sie ja nicht. Oder doch?
Fiktion und Wirklichkeit seien manchmal kaum auseinanderzuhalten, hatte ich erst kürzlich gelesen. Da ging es um die Abtreibungsdebatte. Na jedenfalls, wer etwas über den Unterschied zwischen Wien und, sagen wir: München wissen will, der schaue eine Folge „Kottan“ und eine Folge „Derrick“. Da bleibt dann keine Fragen offen.
In meinen Händen im Klingberg’schen Schreckenskeller lagen plötzlich ein hellblauer und ein grün-gelber Band: „Steve Jones: Der Mann – Ein Irrtum der Natur“, Rowohlt 2003, und Marco von Münchhausen: So zähmen Sie Ihren inneren Schweinehund! Vom ärgsten Feind zum besten Freund“, Campus-Verlag 2002.
Das wären genau die richtigen Weihnachtsgeschenke für jeden Despoten, dachte ich. Eine Liste ploppte in meinem Kopf auf wie der Abspann vom weißen Hai: Assad, Putin, Burhan, Bin Salman, Raisi, Sassou-Nguesso, Lukaschenko… Ich würde diese beiden Bücher für die genannten Weltverschlechterer kopieren müssen. Bestellen konnte ich sie ja nun nicht mehr, jedenfalls nicht hier. Die Buchhandlung war geschlossen. Für immer.